Adolescence – Ein Film, der aufrüttelt

Seit ich den Film Adolescence Hit auf Netflix gesehen habe, lässt mich ein Gedanke nicht mehr los: Es braucht ein Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Ich schreibe diese Zeilen als Mutter, als Lehrerin, als Mensch, der Kinder stärken will – und ich schreibe mit einem Kloss im Hals. Dieser Film hat mich erschüttert. Weil er zeigt, was passieren kann, wenn Kinder nicht gesehen werden. Wenn Wut keinen Raum findet. Wenn Frust nicht verstanden, sondern verdrängt wird.

Ein 13-jähriger Junge ersticht seine Mitschülerin. Ein Verbrechen, das fassungslos macht. Und doch ist es nicht aus dem Nichts entstanden. Der Film zeichnet den Weg dorthin nach: Einsamkeit, Selbstmitleid, Radikalisierung. Das Internet wird zum Zufluchtsort, Social Media zur Bühne für Schmerz, Frust – und schliesslich Hass.

Besonders bedrückend ist die Nähe zur sogenannten Incel-Bewegung – “involuntary celibates”, junge Männer, die sich von Frauen und der Gesellschaft ungerecht behandelt fühlen. Die glauben, ihnen stünde Liebe, Aufmerksamkeit und Sex zu. Und die – statt nach innen zu schauen – ihre Wut nach aussen tragen. Sie verachten, was sie sich insgeheim wünschen. Sie werden zu Feinden jener Welt, in der sie keinen Platz finden.

Verstärkt wird diese Dynamik durch Persönlichkeiten wie Andrew Tate. Seine Videos – voller Dominanz, Frauenverachtung und toxischer Männlichkeitsbilder – werden zum emotionalen Futter für Jungen, die sich klein und machtlos fühlen. Auch der Junge im Film schaut sie. Immer wieder. Heimlich. Nachts. Seine Mutter hört ihn, sagt aber nichts. Vielleicht, weil sie selbst in einer Beziehung voller emotionaler Instabilität lebt. Weil sie gelernt hat, zu schweigen, zu ertragen, durchzuhalten.

Der Vater ist kaum präsent. Er wurde selbst geschlagen, schwor, seinem Sohn nie Gewalt anzutun – und fiel damit ins andere Extrem. Keine Führung, keine Grenzen, keine Regulation. Die Eltern tragen ihre eigenen Lasten – und geben sie unbewusst weiter. Sie haben nie an sich gearbeitet, ihre Wunden nie angeschaut. Und so wächst ihr Sohn in einer Welt ohne Orientierung auf.

Auch das Bildungssystem, wie es im Film dargestellt wird, wirkt überfordert. Ein Polizist beschreibt die Schule als “schrecklich” – Lehrpersonen würden nur noch Videos zeigen, weil das das Einzige sei, was die Jugendlichen noch annehmen. Eine Schule, die sich zurückzieht, statt zu führen. Die keine Räume für Begegnung, mentale Gesundheit oder echte Beziehungsarbeit schafft. Wenn Schule nur noch funktioniert, aber nicht mehr inspiriert, dann verlieren wir – vor allem die, die Halt am nötigsten hätten.

Was Kinder und Jugendliche in diesem Alter brauchen, ist klar: Orientierung, Zugehörigkeit, echte Anerkennung. Gespräche über Sexualität, Rollenbilder, Identität. Emotionale Bildung. Präsente Erwachsene, die zuhören und handeln. Gesunde Vorbilder, die mit Emotionen umgehen können – und nicht wegschauen, wenn es schwierig wird.

Social Media spielt in all dem eine zentrale Rolle. Was sehen unsere Kinder? Mit wem vernetzen sie sich? Wer beeinflusst ihr Denken? Der Junge im Film hatte unbeschränkten Zugang zu allem – niemand interessierte sich dafür, was er konsumiert, worüber er nachdenkt, mit wem er spricht. Es braucht nicht nur Kontrolle, sondern echte Begleitung. Interesse. Vertrauen – und wo nötig: klare Grenzen.

Ich nehme aus diesem Film vieles mit. Vor allem aber ein Gefühl von Dringlichkeit. Als Eltern müssen wir präsent sein – nicht nur körperlich, sondern emotional. Als Schule müssen wir führen – mit Haltung, mit Beziehung, mit Mut. Als Gesellschaft müssen wir hinschauen – und endlich aufhören, toxische Vorbilder zu dulden. Wir alle tragen Verantwortung. Für die Kinder, die wir begleiten. Und für jene, die sonst niemanden haben.

Was können wir konkret mitnehmen?

Als Eltern:

  • Stärken wir unsere natürliche Autorität, ohne laut zu werden – durch Klarheit, Präsenz und emotionale Verfügbarkeit.
  • Fördern wir die Resilienz unserer Kinder, indem wir ihnen zutrauen, mit Herausforderungen umzugehen, statt sie zu vermeiden.
  • Schärfen wir ihr Selbstbild, damit sie wissen: Sie sind genug. So, wie sie sind.
  • Bleiben wir im Gespräch, begleiten wir statt nur zu kontrollieren. Zeigen wir Interesse für das, was sie bewegt – online und offline.
  • Pflegen wir die Beziehung – sie ist das wichtigste Schutzschild gegen Radikalisierung und Selbstverlust.
  • Übernehmen wir Verantwortung für den Medienkonsum unserer Kinder: Keine Geräte im Kinderzimmer – oder zumindest nicht nach einer bestimmten Uhrzeit. Wissen wir, was sie konsumieren, was sie anspricht, welchen Content ihnen der Algorithmus zeigt. Social Media Feeds sind keine Zufallsprodukte – sie spiegeln Interessen, Sehnsüchte und manchmal auch verletzliche Stellen. Darüber müssen wir sprechen – im Austausch, auf Augenhöhe und regelmässig.

Als Lehrpersonen:

  • Führen wir Klassen mit Klarheit, Empathie und einem echten Interesse an jedem einzelnen Kind.
  • Fördern wir ein achtsames Miteinander: zuhören, verstehen, gemeinsam Lösungen finden.
  • Schaffen wir Räume für Mitbestimmung – denn wer sich beteiligt, fühlt sich verantwortlich.
  • Gehen wir auf Interessen und Themen ein, die die Jugendlichen wirklich beschäftigen – auch wenn sie unbequem sind.
  • Thematisieren wir Mediennutzung, Rollenbilder, Sexualität – ohne Scham, dafür mit Offenheit und Respekt.

Und als Gemeinschaft:

  • Schauen wir nicht weg. Jeder Verein, jede Nachbarschaft, jede Gemeinde kann ein sicherer Hafen sein.
  • Unterstützen wir Strukturen, die Kindern und Jugendlichen echte Teilhabe ermöglichen.
  • Fördern wir Dialogräume zwischen Elternhaus, Schule und sozialem Umfeld – denn nur gemeinsam entsteht Halt.
  • Schaffen wir ein Klima der Offenheit, in dem sich Sorgen mitteilen lassen, bevor sie eskalieren.

Adolescence ist kein Dokumentarfilm. Und doch erzählt er eine Realität, die so oder ähnlich jeden Tag irgendwo geschieht. Es ist ein Weckruf. Kein lauter, sondern ein leiser, eindringlicher. Er fragt: Haben wir genug getan? Hören wir hin, wenn Kinder schreien – auch wenn sie es nicht mit Worten tun? Schauen wir genau hin – oder lieber weg?

Es braucht ein Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Und dieses Dorf sind wir alle – Eltern, Schule, Gemeinschaft.

Was denkst du beim Lesen dieses Textes? Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf? Ich freue mich, wenn du sie hier teilst.
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