Unser Schüler will nicht
Wir zwei Lehrpersonen führen gemeinsam eine dritte Primarschulklasse.
Wir haben einen Schüler in der Förderstufe 3, also mit einem Sonderschulstatus. Er ist sehr unmotiviert, arbeitet immer nur, wenn er 1:1 jemanden neben sich hat.
Er macht seine Hausaufgaben. Zusätzliche Aufgaben, wie z.B. ein Gedicht üben und auswendig vortragen macht er meist nicht, obwohl er doch eine ganze Woche Zeit dafür hätte.
Er ist unmotiviert, hat oft Streit in der Pause und ist sehr unselbstständig. Wir Lehrpersonen machen uns Sorgen, wie das in der vierten Klasse gehen soll, wenn die anderen Schüler*innen noch weiter sind.
Er hat zwar im Lesen Fortschritte gemacht. Denn er hat täglich zu Hause und in der Schule geübt. Aber in den anderen Fächern kommt er nicht so wirklich vorwärts.
Was können wir tun als Lehrpersonen?
Wir sind etwas frustriert, weil unser Aufwand keine grossen positiven Auswirkungen zeigt.
Als Lehrpersonen verstehen wir nur zu gut, wie frustrierend es ist, wenn die vielen Bemühungen scheinbar keine wirklichen Fortschritte zeigen. Der Schüler, um den es geht, bringt uns immer wieder an unsere Grenzen, da es schwerfällt, ihn zu motivieren und eigenständiger arbeiten zu lassen. Besonders in einem inklusiven Setting mit einer heterogenen Klasse kann es herausfordernd sein, den individuellen Bedürfnissen eines Schülers gerecht zu werden, der so viel Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigt. Dabei stehen wir immer wieder vor der Frage, wie es wohl in der vierten Klasse weitergehen soll, wenn die anderen Schüler
bereits weiter sind und eigenständiger arbeiten. Ein Ansatz könnte sein, den Unterricht zu öffnen und gezielt herauszufinden, was diesen Schüler wirklich interessiert und innerlich bewegt. Motivation kann oft dort entstehen, wo eine echte Neugierde oder eine Leidenschaft geweckt wird. Vielleicht kann der Unterricht so gestaltet werden, dass er mehr Raum für seine Interessen lässt. So könnte sich die Arbeit für ihn auch „natürlich“ anfühlen, ohne dass es ihm als zusätzliche Anforderung erscheint. Vielleicht kann er eigene Projekte wählen oder kleine „Expertenaufgaben“ übernehmen, die ihn in seinem Selbstwert stärken und ihm das Gefühl geben, dass er etwas Besonderes und Wertvolles zur Klassengemeinschaft beiträgt.
Weiter könnte es sinnvoll sein, zu prüfen, ob zusätzliche Assistenzstunden möglich wären. Ein Schüler in Förderstufe 3 hat oft einen Bedarf an kontinuierlicher Unterstützung, die mit den Ressourcen einer regulären Klasse nur schwer zu stemmen ist. Durch eine zusätzliche Assistenz könnten wir als Lehrpersonen entlastet werden, und der Schüler bekäme genau die 1:1-Betreuung, die ihm am meisten hilft und in der er am besten arbeitet.
Gleichzeitig kann es hilfreich sein, den Mut zur Lücke zu entwickeln. Müssen wirklich alle Anforderungen von ihm gleichermassen erfüllt werden? Wenn ein Gedicht auswendig lernen für ihn eine nahezu unüberwindbare Hürde darstellt und das Vermeidungsverhalten verstärkt, wäre es vielleicht sinnvoll, alternative Aufgaben anzubieten, die eher auf seine Stärken und Interessen abzielen. Vielleicht könnte er anstelle eines Gedichts ein kurzes Referat zu einem seiner Lieblingsthemen vorbereiten und vorstellen. Oder er könnte einen kreativen Beitrag zur Klasse leisten, der sein Engagement und seine Talente aufgreift. Ein flexiblerer Umgang mit den Anforderungen, die ihm wirklich schwerfallen, kann ihm helfen, die Freude am Lernen zurückzugewinnen und sich mehr in die Klassengemeinschaft einzubringen.
Da er Fortschritte im Lesen gemacht hat, ist dies ein wichtiger Anknüpfungspunkt, den wir nutzen können. Seine tägliche Übung im Lesen hat gewirkt, und dieser Erfolg kann ihm das Vertrauen geben, dass er sich in anderen Bereichen ebenfalls verbessern kann, wenn er am Ball bleibt. Als Lehrpersonen könnten wir ihm gezielt Aufgaben geben, die auf seine Lesefähigkeit aufbauen und Erfolgserlebnisse ermöglichen, zum Beispiel durch Lesepatenschaften oder das Vorlesen einfacher Texte für jüngere Schüler
. Nicht zuletzt ist es wichtig, dass wir uns gegenseitig als Lehrpersonen und das Team unterstützen und auch unsere Frustration thematisieren. Jeder Schüler bringt eine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit und eigene Herausforderungen mit, und manchmal ist es einfach unvermeidlich, dass einige unserer Anstrengungen nicht sofort greifen. Gemeinsam könnten wir uns auf regelmäßige Reflexionsrunden einigen, um Fortschritte und Stolpersteine zu besprechen und die positiven Entwicklungen, auch wenn sie klein sind, hervorzuheben. Manchmal sind es die kleinen Schritte, die langfristig den grössten Unterschied machen.
Ich kann gut nachvollziehen, dass es mit der Zeit frustrierend sein kann, wenn die erhofften Fortschritte sich nicht zeigen.
Dem Schüler scheint es ähnlich zu gehen. Auch er wäre vermutlich motivierter, wenn er mehr Erfolgserlebnisse hätte.
Ein Sonderschulstatus bedeutet, dass er an vielen Orten nicht das leisten kann, was die Klasse macht. Diese angepassten Lernziele lassen zu, dass mit ihm Aufgaben gefunden werden, welche er möglichst selbständig lösen kann.
Ich würde von dem ausgehen, was er kann und das sichtbar machen. Vielleicht unterstützt ihn dabei ein Belohnungssystem.
Eine Aufgabe über eine Woche in einzelne Lernschritte zu unterteilen, scheint für ihn ein zu hoher Anspruch darzustellen.
So kann er vermutlich erst einmal eine Aufgabe auf den nächsten Tag lösen. Das kann langsam gesteigert werden. Ein Visualisierungstool wie z.B. eine Checkliste könnte dabei hilfreich sein.
Wenn er mit 1:1 Betreuung arbeitet, könnte er dort mit Lernstrategien so lernen, dass die Begleitung zwar dabei ist, er aber das Lernen selbständig übernimmt. So dass er es mit der Zeit auch alleine kann. Ich denke da z.B. an Lernkarteikarten an Stelle von abgefragt zu werden.
Die Erfolge beim Lesen würde ich als positives Beispiel nehmen, wie regelmässiges Üben Veränderung bringt. Auch die Eltern sollten erfahren, was ihre Unterstützung bewirkt hat und motiviert werden, dran zu bleiben.
Viel Ausdauer wünsche ich euch und dass ihr die kleinen Erfolge mit ihm zusammen immer wieder feiern könnt.